ein Toter klingelt
Der tote Mann in der Tür, starrt mich an, offener Mund, hohle Wangen, kein Kind auf dem Arm, das hat er fallenlassen, und er steht vor mir, atmet mir Verwesung entgegen und starrt mich an, der Tote, so böse- und ich schrecke hoch aus meinen nachmittäglichen Schläfchen. Hatte geträumt, dass ich auf Sebastian warte, und dann irgendwann das Klingeln an der Tür, und ich öffne, und dann- der Tote. Es ist der Tote aus der Leichenhalle, das weiss ich sofort: Ist über zwanzig Jahre her, und ich hatte damals damit gerechnet, dass er sofort in meine Träume kommt, böser Geist als Rache für das schlechte Gewissen, war das Leichenschänderei?, böser Geist und böse Träume, aber er kam nicht, er kam nicht. Heute also, zwei Jahrzehnte später. Damals -ich glaube, da war ich Abiturientin- waren wir eines Nachts auf dem Friedhof hier im Hammer Westen unterwegs. Ein paar Leute aus der Clique, und wir waren völlig zugekokst und vollgesoffen und hatten die Idee, einen Spaziergang auf dem Friedhof zu machen. Es war Herbst, November, diese Zeit, in der gläubige Menschen rote Lichter auf die Gräber stellen. Wir klauten ein paar davon und zogen durch die Gräberreihen. Irgendwann kamen wir auch an der Leichenhalle an, ein kleines Haus am Anfang des Friedhofs. Tanni rief: “Ey, das Fenster steht auf!”, und wir alle stürzten zum Fenster, Erdgeschoss, und ohne weiteres Nachdenken kletterten wir in das Haus: Vielleicht liegen Leichen drin. Nur Tanni blieb draussen: “Ihr seid ja krank”, fand sie. Ich hatte bis dahin noch nie einen toten Menschen gesehen und war durchaus neugierig. Ernste Gedanken habe ich mir in meinem verstrahlten Zustand kaum gemacht. In einem Raum lag tatsächlich ein Körper: Auf einer rollbaren Bahre, in einem Sack aus Kunststoff.. Irgendwer schob die Bahre in die Mitte des Raumes, und kaum standen wir alle drumherum, riss jemand den Leichensack am Reissverschluss auf. Sofort ein übler Geruch, süss-metallen, totes Fleisch, mein erster Blick ging auf einen schrumpligen Schwanz, mein zweiter weiter zum Gesicht, eingefallene Wangen, der Mund stand offen. “Lasst uns den auf ne Bank draussen setzen, Flasche Bier dazu!”, rief einer, und dann machten sie Anstalten, den Toten von der Bahre zu hieven. Mir wurde schlecht, Kotzreiz, dieser Gestank, ich rannte zum Fenster und nichts wie raus, nichts wie wieder raus, und beim überstürzten Klettern ratschte ich mich am Schienbein, ziemlich heftig, da ist bis heute eine Narbe. Es hat sich dann doch niemand getraut, mit dem Toten irgendeinen Schabernack zu treiben, und wir zogen wieder ab. “Wenn euch jemand erwischt hätte, die hätten euch sofort in die Klapse gebracht”, meinte Tanni. Mir hat das kein gutes Gefühl gemacht, die Totenruhe gestört zu haben: Dachte wirklich, der Tote wird sich rächen, wird in meine Träume kommen, böser Geist, aber er kam nicht, kam zwanzig Jahre lang nicht, warum ausgerechnet heute? Im Traum erwartete ich Sebastian, und dann stand da dieser Zombie, mit einem Kind auf dem Arm, und das Kind reckte seine Hand nach mir, und dann liess der Tote das Kind fallen, das passierte ganz lautlos, und das Kind schlug nicht auf dem Boden auf, es ging hindurch, verschwand im Boden, und ich sehe den Toten stehen wie er mich anstarrt, offenes Maul, und kein Kind, eine Todesangst riss mich dann ins Wachsein. -
Jetzt streiche ich über die Narbe an meinem Schienbein, Erinnerung an die Leichenhalle, und habe ein mulmiges Gefühl.
Jetzt streiche ich über die Narbe an meinem Schienbein, Erinnerung an die Leichenhalle, und habe ein mulmiges Gefühl.
Paula Wigges - 12. Aug, 17:04